Unterwegs - Pilgern
auf dem Erkenntnisweg
IN DER FREMDE
MIT SICH SELBST
Ein Pilger ist vom Wortsinn
her ein Fremder. Er geht durch unbekanntes Gebiet. In der religiösen Literatur wird das
ganze Leben als Pilgerschaft angesehen. Was vor uns liegt ist zwar berechenbar, aber in
letzter Konsequenz unbekannt und somit fremd.
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Ist denn aus der
Retrospektive betrachtet das was hinter uns liegt bekannter? Ändert sich die
Vergangenheit nicht während man auf seinem Lebensweg voranschreitet? Irgendwie ja. Denn
Erinnerung ist immer lückenhaft. Und so entsteht im Rückblick oft eine neue
Vergangenheit. Die je nach Stimmung rosig oder grau erscheint.
Was ist also verläßlich bekannt? Die Vergangenheit nicht. Die Zukunft auch nicht. Nicht
mal der Gehende ist sich selbst bekannt. Er kann mit sich selbst bekannt werden. Damit
endet seine Pilgerschaft. Er ist kein Pilger, kein Fremder mehr. Sondern ist ein
Bekannter.
AUF DEM KREUZWEG
Es gibt Spaziergänger, Wanderer und Pilger, die dem Kreuzweg folgen. Ein Pilgerweg ist
ein Kreuzweg, weil sich dort beständig zwei Wege kreuzen: der exoterische und der
esoterische. Der eine führt über die Erde, der andere durch den Himmel, durch das
Nicht-Materielle des Geistigen. Pilgern ist eine Kunstfertigkeit, die das Materielle mit
dem Geistigen verbindet. Den Himmel mit der Erde vernetzt.
ALLER ANFANG IST HEITER!
Diesem Proverb glauben wir offensichtlich nicht, als wir am späten Nachmittag in Hameln
dem Zug entsteigen und es prompt zu regnen beginnt. "Die Eskimos haben 60 Ausdrücke
für Schnee. Wieviel haben wir für Regen?" bemerkt Susanne und gibt damit den
Startschuß für das erste Gesprächs-Thema.
Ein Thema ist eine Gewichts-Einheit des esoterischen Weges. Es verleiht Himmelshaftung. Im
Gegensatz zur Bodenhaftung, die allein durch die Wirkung der Elemente hergestellt werden
kann. In diesem Fall: Nässe. Wir fabulieren über Sackregen, Schnurregen, pissigen
Dauerregen, steilen Frontregen und nässenden Druckregen.
Und empfinden den Regen als segnende Prüfung für den Beginn der vor uns liegenden
Etappe.
KREUZ UND QUER IM REGENWALD
Das Andreas-Kreuz, die Markierung des Europafernwanderweges 1 nach Genua, dem wir folgen,
weist uns den Weg. Leider nicht immer. Wir verlieren schon nach einer Stunde die
Orientierung. Es regnet immer noch. Kugelregen. Schweineregen. Cats and Dogs. Autos fahren
langsam an uns vorbei zu einem Waldrestaurant, das wir gerade passieren. "Da sitzen
sie in ihren Autos. Vorher haben sie in ihren weichen Sofas gesessen und nun wollen sie
vor einem Mahl sitzen, um dann wieder im Auto zu sitzen und so weiter," sage ich.
"Weißt Du dass bei den Zigeunern das Wort für Seßhafte identisch ist mit dem Wort
Fleisch - Sitzfleisch vermutlich?"
Als wir im nächsten Dorf zum ersten Mal den Ernst unserer Lage auf einer Karte erkennen,
ist es spät und noch immer 8 Kilometer bis zur nächsten Übernachtungsmöglichkeit. Es
kommen Gedanken wie: "Laß' uns trampen."
Doch davon steht leider nichts in den selbstgesteckten Pilgerstatuten. Ich erinnere mich
an ein Ehepaar, das auf dem ehrwürdigen Pilger-Weg von Lausanne nach Santiago wegen einer
Unpässtlichkeit drei Kilometer mit dem Taxi gefahren ist und nun eine schmerzende Lücke
zu verkraften hat.
WÜNSCHE SIND PILGER IN
DER GEISTIGEN WELT
Alles Werden hat ein Sein im Hier und Jetzt. Im englischen be-come wird dies sofort
ersichtlich. Deshalb besteht jeder Wunsch, der in uns auftaucht, schon irgendwo als
Seinszustand.
Anders ausgedrückt: Jeder Wunsch ist real in dem Sinne, dass seine Erfüllung bereits
existiert. Jeder Wunsch ist das geistige Gegenbild seiner eigenen schon bestehenden
Erfüllung.
Verständlich, dass wir uns in dieser feuchten Großwetterlage eine warme Unterkunft
wünschen. Kaminfeuer und nette Wirtsleute. Der Wunsch geht in Erfüllung. Sofort. Im
Moment der Aufgabe, wenn man zwischen Aufgabe und Hingabe schwankt.
Unsere Wirtsleute trocknen unsere Sachen, machen Tee und Glühwein, leihen uns trockne
Socken und offenbaren uns am nächsten Morgen am gemeinsamen Frühstückstisch ihr Leben.
Wir werden herzlich verabschiedet. Mit einem photografischen Abbild unserer Existenz für
ihr Gästebuch.
DER SOHN DES WANDERERS
Sollte ich auch etwas über die wunderbare Landschaft schreiben, die kleinen in Mulden
versteckten idyllischen Orte, die wir durchqueren, die Schönheit der Natur? Das ist nicht
mein Thema. Ich beschreibe lieber Wirkungen, Ideen, Ereignisse und ihre Reflektionen.
Die Natur bewirkt eine magnetische Umpolung des Denkens. Schon binnen kurzer Zeit fließen
die Gedanken in ruhigeren, einfacheren Kanälen. Wie angenehm.
Später am Tag, am Beginn der wirklich schönsten Etappe, treffen wir Bernd. Er sitzt auf
einer Bank und studiert seine Karte. Eine Armeekarte. Und wie sich später im Gespräch
herausstellt, die Karte seines Vaters, eines Offiziers, der 1979 den Weg von Flensburg zum
Bodensee gegangen und auf der Alpen-Etappe abgestürzt ist. Sein Leichnam wurde erst vier
Tage später geborgen. Steif gefroren.
Bernd folgt den Karten, die mit Kommentaren seines Vaters versehen sind und zugleich
Markierungen von Truppen-Manövern aufweisen, die diese Gegend in den siebziger Jahren
durchfurcht haben müssen.
17 Mal war er umgezogen. "Alle fünf Jahre muß man einen neuen Standort
finden", war die Meinung seines Vaters.
Ruhelosigkeit hat Methode. Jains bleiben nicht länger als 24 Stunden an einem Ort.
Derwische auch nicht. Nomaden auch nicht. Warum ist die übrige Menschheit bloß so
sesshaft?
Für kurze Zeit sind wir ein Dreier-Team. Bernds Bundeswehrkarte bewährt sich. Insgesamt
ist die Weg-Markierung auch wieder besser, eindeutiger. Wir gehen nicht verloren. Wir
kommen voran. Unser Tagesschnitt beträgt etwa 28 km.
DA HABEN WIR DEN SALAT
Wünschen ist das Herbeifabulieren von Wirklichkeit. Damit experimentieren wir an diesem
Tag weiter. Wir wünschen uns bei den himmlischen Köchen einen Super-Salat. "Aber
das Restaurant soll zusätzlich auch auf Salatsoucen spezialisiert sein," ergänze
ich.
In Linderhofe treffen wir dann auf ein Pärchen, das mit ihrem Hund von Bremen zum
Bodensee wandert. Sie schlafen in Bushaltestellen. Wegen der Rückenbeschwerden kann die
Frau keinen Rucksack tragen und zieht deshalb eine Einhand-Einkaufskarre hinter sich her.
Bei der ungemütlichen Witterung und den Wegen kein angenehmes Unterfangen.
Wir kehren in Linderhofe ein. Und erleben das zuvor bestellte "Salatwunder". In
diesem Restaurant gibt es den besten Salat der ganzen Pilgerschaft. Drei Salat-Soßen
inclusive, mit Nachbestell-Option. Ein gutes Beispiel für die Kraft des Wünschens.
GEHÄUTETES WASSER
Michael Holzhammer, der Hamburger Journalist, der "Deutschland umsonst"
geschrieben hat, "wandert" durch meine Erinnerung.
Mir geht die Stimmung seines Buches durch den Kopf, wenn ich die offensichtliche Idylle
der Ortschaften, die wir durchqueren abgleiche mit den Realitäten. Was spielt sich hinter
den schönen Fassaden hinter den romantischen Kulissen wirklich ab?
Holzhammer ertrinkt später in der Emscher, als er seinen Hund retten will. Die dort
ansässige Industrie leitet ihre Abwässer in diesen kleinen Fluß. Dadurch löst sich die
Oberflächenspannung des Wassers auf. Selbst ein guter Schwimmer hat in Gewässern ohne
Oberflächenspannung keine Chance. Das Wasser trägt ihn nicht.
ZUVIEL WEICHMACHER
Wie häufig saufe ich in meinem Alltag ab, weil die Spannung fehlt? Zuviel Weichmacher in
den Gedanken? Hier auf dem Pfad ist jeder Alltag ein Neutag. Wir fühlen uns beide so als
wären wir schon seit einigen Tagen unterwegs. Dabei ist es erst der zweite. Das
Zeitempfinden hat sich verändert. Das Neue sorgt für Spannkraft. Und die Zielsetzung
muß nie überdacht werden. Sie ist klar. Mit jedem Schritt bleibt der Weg das Ziel.
Für diesen zweiten Abend wünsche ich mir eine Badewanne und eine Sauna. Das wird in der
abgelegenen Idylle des Teutoburger Waldes eher selten anzutreffen sein. Umso wunderbarer
als wir in Hillentrup Quartier beziehen und tatsächlich eine Sauna mit riesiger
Badewanne, sprich Swimming-Pool vorfinden. Wunder geschehen beim Pilgern etwas schneller.
LÖCHER IN DER ZEIT
Es ist 6 Uhr. Es ist der dritte Tag und wir gehen von Hillentrup weiter in Richtung Lemgo.
Durch die Lemgoer Mark über den Windelstein. 347 Meter über Normal Null. Als wir um 8
Uhr Lemgo erreichen, wollen wir frühstücken. An einem Sonntagmorgen ist das hier in der
tiefen Provinz fast unmöglich.
Eine von der letzten Nacht noch erschöpfte Gaststätte hat schon geöffnet. Die Wirtin
ist nett, doch das Umfeld empfinde ich als bedrückend.
Erste Gäste trinken sprachlos ihr Morgen-Bier mit Köm. Alte Männer im Sonntagsstaat.
Über dem Kamin hängt die Losung des Ortes: "Es ist besser in der Kneipe zu sitzen
und an die Kirche zu denken, als in der Kirche zu sitzen und an die Kneipe zu
denken." Schnell weiter. Aber langsam.
VOM SEGEN DER LANGSAMKEIT
Auf dem Rathausvorplatz von Lemgo machen 500 Radfahrer ihre Morgengymnastik. Sie fahren in
10 Tagen bis nach Köln. Eine Aktion des WDR. Geschlafen wird in Turnhallen. Geht das gut?
Ich meine, dass zu viele Leute die Poesie des Weges verderben.
Einen Weg muß man unter seinen Fußsohlen spüren, ihn zum Singen bewegen. Wer den Gesang
empfängt, läuft sich dabei selbst ins Dasein. Er empfängt sich selbst durch Hören.
Der westliche Archetyp des Selbst ist Jesus, der einer aramäischen Legende zufolge von
Maria durchs Ohr empfangen wurde. Hören ist empfangen und dies geschieht langsam.
Langsamkeit zieht nicht etwa den Weg in die Länge, sondern zieht die Verbindungslinie
zwischen exoterischer und esoterischer Welt straff. Es ist als wenn man durch
Beschaulichkeit diese Verbindung aufspannt. Durch Schnelligkeit geht sie verloren. Über
diesen Zusammenhang könnte Susanne wahrscheinlich aus sehr praktischer Sicht referieren.
Denn als Feldenkraistherapeutin inszeniert sie langsame Bewegungen.
HEIMWEH IST FERNWEH
Weiter geht es nach Detmold, das wir schon um 14.30 Uhr erreichen. Endlich scheint die
Sonne. Wir gönnen uns eine ausgiebige Pause im Straßenlokal Stuck. Und nach einiger Zeit
trudelt auch Bernd ein. Ich glaube, er fühlt sich allein etwas einsam. Als er nicht auf
Anhieb einen Schlafplatz findet, will er nach Hause fahren, um dort zu übernachten. Sein
Bett ist ja nur eine halbe Stunde Fahrzeit entfernt. Ich fürchte, die magnetische Kraft
des Weges hat ihn noch nicht ergriffen. Ob er der kuscheligen Bequemlichkeit der Heimat
widerstehen kann?
Wir beschließen diese Etappe mit einem riesigen Salat und einem großzügigen
Bananen-Split und fahren um 17 Uhr zurück zum Ausgangspunkt Hamburg. Seit meinem Start
von Hamburg sind 350 km "vergangen" und ca. 12 Tage. Die Bahn braucht für diese
Strecke nur 3:30 Stunden. Die gleiche Entfernung ist in verschiedenen Zeitqualitäten
möglich.