Bossing - wir wolln doch
weiterkommen
...Sollen Mitarbeiter bei der Arbeit etwas zu lachen haben? Diese Frage beantwortet Otto
Wacker, der Outboundleiter, soeben mit einem Blick aus seinem Büro heraus zu den dreien,
die dies in Anbetracht ihrer möglichen beruflichen Weiterentwicklung herzhaft tun. Es
scheint für Fuzzy, wie er heimlich von der Belegschaft genannt wird, eine beängstigende
Wirkung zu haben, wenn das monotone Gemurmel in irgendeiner Art und Weise gestört wird.
Also entschließen sich die mit Blicken Gerügten, eine rauchen zu gehen.
Der verglaste Bretterverschlag diente einst als Laderampe. Die ehemals weiß lackierten
Holzteile wechseln schon von rauchergelb nach raucherkrebsbraun. Decken, Wände, Türe und
auch die Glasscheiben gestalten sich ebenfalls Ton in Ton und selbst die Außenwand hat
durch die stets offenen Fenster diesen Gilb angenommen.
Der ahnungslose Passant, dessen Auge diese scheußlich pissgelbe Fensterfront von außen
einfängt, mag manchmal zu dem Schluß kommen, die Gestalten, die dort herausschauen, habe
man weggesperrt. So sehnsüchtig schauen die Glimmstengelzieher hinaus ins Freie und
erwarten das Ende ihrer Arbeitsschicht.
Die Einrichtung steht jener Siffecke an Scheußlichkeit in nichts nach. An jedem der
beiden ausgemusterten Schreibtische fehlt mindestens eine Ecke, ganz zu schweigen von
Furnierschäden auf der Platte. Die Zahl der Stühle ändert sich täglich. Wenn einer der
Schreibtischstühle nicht mehr zum Arbeiten taugt, wird er in dieses sogenannte
Raucherzimmer geschafft. Wenn er sich durch die Behandlung dort dann schließlich zum
gefährlichen Ungeheuer entwickelt, weil seine herausstehenden Schrauben oder Federn den
Leuten buchstäblich den Arsch aufreißt, dann darf dieses Invalidenmöbelstück endlich
seinen Ruhestand auf dem Sperrmüll genießen.
Und doch ist dieses Loch irgendwie das Herzstück der ganzen Firma. Es ist Pressezentrum,
denn ein Gerücht, dort unter der Prämisse der absoluten Geheimhaltung erwähnt, ist
garantiert binnen einer Stunde im ganzen Betrieb durch. Noch bevor bekannt wurde, was mit
Sophie passiert war, wurde im Pressezentrum bereits eine Geschichte entwickelt, die der
Wirklichkeit in manchem sogar gerecht wurde. Die potentielle Neuigkeit machte dann
prophylaktisch schon einmal die Runde durch den Betrieb. Für diese Art professioneller
Berichterstattung hatte es nur eine einzige Bemerkung der Reinigungsperle bedurft:
"In Büro liegt Chef mit Frau wie hingekotzt."
Das Raucherzimmer ersetzt aber auch den Betriebspsychologen. Jeder Frust, sei es nun über
einen unmöglichen Kunden, über ungeliebte Kollegen oder aber über die
Geschäftsleitung, kann hier in diesen heiligen Hallen therapeutisch von den Seele geredet
werden. Alle zufällig anwesenden Mitraucher stehen mit Rat, Tat, Verfluchung und
Rachevorschlag zur Seite. Nicht zu vergessen, dass die, wie schon erwähnt, dringend auf
ihre Invalidität wartenden Möbelstücke dankbar sind über jeden Wutausbruch, den man an
ihnen ausläßt. Gitte und Franziska, aber auch Annelie, Ricarda, Sabine und viele andere
trifft man hier regelmäßig. Eine Stunde malochen, sieben Minuten qualmen, so heißt die
Devise. Im übrigen eine der wenigen Methoden, einen solchen Arbeitstag auf Dauer
durchzustehen.
Franziska war vor knapp drei Jahren zu "Krass und Peinlich" gekommen. Man machte
dort grade mühsam die ersten Schritte in diesen neuen Bereich des Telefonmarketings.
Outbound, das sind diese Anrufe, die auch Sie ständig bekommen. Sei es, dass Sie an einer
illustren Marktforschung teilnehmen und anschließend mit für Sie völlig uninteressanter
Werbung zugeschissen werden oder aber die tollen Schnäppchen, die diese netten Damen und
Herren immer so schön anpreisen, dass Sie doch glatt das Neinsagen vergessen - all diese
Anrufe könnten von Franziskas Mitarbeitern kommen. Die Fünfzigjährige hat diesen
Bereich bei Krass und Peinlich salonfähig gemacht bei. Große, erfolgreiche Firmen lassen
ihre Waren mittlerweile von diesem Call-Center verkaufen....
Auch jetzt muß mal wieder ein neues Produkt unter die Leute gebracht werden. Einzig
Gittes Team eignet sich für derlei Testaktionen. Gitte war damals kurz vor Franziska in
die Firma gekommen die beiden haben zusammen einiges an Pionierarbeit in diesem damals
neuen Geschäftsbereich geleistet. Und das, obwohl die zwei Frauen den Begriff
"Outbound" noch nie gehört hatten, bevor sie an diesen Betrieb geraten sind....
...Blass und abgemagert saß Sophie Prandtner auf ihrem Krankenhausbett. Ihre erster
Versuch, mal wieder ein Buch zu lesen, klappte überraschend gut. Wie heiter doch das
Leben in den Romanen war!
Auch das dritte Klopfen blieb unbeantwortet. Du liebe Zeit, sie wird sich doch nicht...
Entschlossen öffnete Schwester Brigitte die Tür und blieb verwundert stehen. Dieses
ausgemergelte Gesicht, in dem der einstmals sicher sehr schöne Mund wie ein viel zu
großes klaffendes Loch aussah - dieses Gesicht lächelte. Noch nie hatte Schwester
Brigitte dieses Gesicht lächeln sehen.
"Sie haben Besuch, Frau Prandtner."
Sophies Lächeln erfror langsam, ihre Augen begannen zu flattern und ihr Lippen
formulierten die bange Frage:
"Ist er es?" Schwester Brigittes Nicken war nur angedeutet. Sie senkte den Blick
und hoffte insgeheim, Frau Prandtner würde die richtige Entscheidung treffen.
"Sagen Sie ihm, ich möchte ihn nicht sehen... Sagen Sie ihm, ich möchte ihn nie
mehr sehen." Diese Antwort nahm Schwester Brigitte sichtlich erleichtert mit aus dem
Krankenzimmer. Die Buchstaben von Sophies heiterem Roman wirbelten indessen aus den Seiten
heraus und formierten sich zu einer ganz anderen Geschichte, die die Patientin nur zu gut
kannte. Die Entscheidung, Heinz Eckerbauer nicht zu empfangen, war ihr nicht leicht
gefallen. Trotzdem, sie durfte diesen Mann nie mehr treffen. Ihn nicht mehr anrufen und
ihn anflehen, er möge doch zu ihr kommen, nie mehr in seiner Firma arbeiten und auch nie
mehr mit ihm schlafen. Sophie wußte ganz genau: wenn sie es diesmal nicht schaffte, mit
dem Saufen aufzuhören, würde sie jämmerlich verrecken. Noch einmal würde ihr Körper
so eine Hölle nicht durchstehen. Und ihre Seele auch nicht. Und ihre elfjährige Linda
erst recht nicht. Tränenbäche schwemmten das schreckliche letzte Jahr aus ihrem Körper
und tauchten sie in einen erschöpften Schlaf.