Leseprobe - Short Stories
Im Wüstenkrieg
Sie saß in der Falle. Ihr
GPS hatte sie bereits auf der Straße verloren. Das bedeutete Kontaktsperre, was fast
einem Todesurteil gleich kam. Nun könnte sie alles verlieren. Und das war nicht viel. Wo
waren ihre Kameraden? War sie die einzige Überlebende? Jetzt trat ein, was sie am meisten
gefürchtet hatte: Todesangst. Sie hatte keine Pillen mehr, also musste sie ohne Drogen
die Angst überwinden. Der Schweiß hatte die Schutzmaske mit ihrer Haut verklebt. Sie
bekam kaum noch Luft. Das Herzklopfen war so laut, dass es wohl kaum dem Feind verborgen
bleiben konnte, der sich drei Meter hinter der Tür verschanzt hatte. Wie viele von dem
Pack hatten sich dort versteckt? Wie waren diese feigen Ratten bewaffnet? Hör auf zu
zittern, befahl sie ihrem Körper. Versuch dich irgendwie abzulenken, denke dich groß,
denk an die Geburt deiner Kinder, an deinen Mann oder an deinen ersten Orgasmus. Als der
bebrillte Captain sehr ernsthaft über mentale Kampftechniken referierte, hatte sie
insgeheim lachen müssen. Jetzt begriff sie, wie nutzlos das Wissen der akademischen
Theoretiker tatsächlich war. Aber immerhin, sie konnte ihren Kopf zwingen, kurz Bilanz zu
ziehen. In Gedanken breitete sie ihre verbliebenen Habseligkeiten vor sich aus: Eine
Handgranate, eine MP mit etwa sechzig Schuss Munition, das Sturmmesser, ein defektes
Notebook, die ABC-Schutzmaske, der Spezialrucksack mit Trockennahrung. Schließlich:
Tarnanzug, Helm, Kampfstiefel. Dazwischen klebte noch die Seidenunterwäsche auf der Haut.
Sie kam sich wirklich dämlich vor: Dessous in den Zeiten des Krieges! Wenn das Pack sie
lebend in den Griff bekäme, wäre das fast wie ein Hauptgewinn. Ein toter Soldat würde
den orientalischen Schweinen mehrere Tausend Dollar bringen. Mit einer blonden Soldatin in
Seidenunterwäsche würden sich sicher hundert schnauzbärtige Böcke vergnügen. So
lange, bis es eben nicht mehr ging. Weiter kam sie nicht. Sie hörte einen Schrei, dann
öffnete sich die Tür und ein Soldat rannte mit gezücktem Bajonett auf sie zu. Ihr blieb
genügend Zeit, die MP auf Einzelfeuer zu stellen, dann atmete sie durch und gab zwei
Schüsse ab. Der Mann fiel etwa einen halben Meter vor ihr zu Boden. Nachdem sich hinter
der Tür nichts mehr rührte, kam sie aus ihrem Vorsprung hervor und nahm dem Soldaten den
Helm ab. Er lebte noch. Sein Gesicht war vor Angst und Schmerz entstellt. Sie schätzte
ihn auf etwa vierzehn Jahre. Sie streichelte ihm über die Haare, während sich ihre Augen
mit Tränen füllten.
*****
Ein Abend aus dem
Leben eines Fahrgastes
des öffentlichen Nahverkehrs
Endlich Wochenende! Aber
warum kommt die Straßenbahn nicht? Schon zum zweiten Mal in dieser Woche verspätet sich
die Tram und ich verpasse mal wieder den Anschluss an den Bus. Gerade heute Abend habe ich
etwas vor. Das ist ja wieder typisch. Murphy, mein bester Freund! Okay, jetzt nehme ich
die 708 bis Uhlandstraße und dann die 713 bis Gerresheim Krankenhaus. Da kommt die 708.
Geschafft: vier Minuten später bin ich in der Uhlandstraße. Und siehe da, es kommt eine
Bahn. Hurra, ich habe Anschluss. Ein kurzer Blick auf den Plan zeigt mir, dass es sich um
die 713 handeln müsste. Aber es kommt eine 703. Warum? Geht meine Uhr falsch? Nehme ich
jetzt die 703 und fahre bis Gerresheim Rathaus oder warte ich. Ich bleibe stehen, denn die
713 sollte ja in einer Minute ankommen. Weshalb bin ich der Einzige, der hier dumm
herumsteht? Mist! Ich warte eine Minute, zwei Minuten, fünf Minuten. Scheiße, ich habe
einen Fehler gemacht. Die 713 ist wohl ausgefallen und ich muss auf die nächste 703
warten. Die kommt in 5 Minuten. Ich habe ein Buch dabei, doch bin ich zum Lesen zu
unruhig. Ich, der große Perfektionist, habe mich verkalkuliert. Ich Idiot! Wenigstens
kommt jetzt die 703; doch ich habe wieder zehn Minuten verschenkt. Nicht daran denken, sei
ruhig entspanne dich!
Ich sitze nun in der 703 und packe mein Buch aus: >Quest< von Eschbach. Irgendwie
fällt mir der Einstieg schwer, weil mich immer wieder etwas ablenkt. Vor mir grölt ein
Besoffener herum. Jetzt macht er auch noch eine Frau an. Die Frau steht auf, geht zum
Führerhaus und beschwert sich beim Fahrer. Dann setzt sie sich wieder hin und das Theater
geht weiter. Mensch, halt die Klappe und lass mich in Ruhe mein Buch lesen. Ein Fahrgast
ruft dem Besoffenen zu, er möge die Klappe halten. Er siezt ihn. Ich würde einen
herumgrölenden, etwa mittelgroßen blonden Arbeitertypen mit Baseballmütze duzen. Ein
förmliches "Sie" ist zu viel der Mühe und reine Zeitverschwendung. Endlich
hält er die Klappe. Aber nur kurz. Er steht auf, setzt sich einer gutaussehenden
Schwarzhaarigen gegenüber und labert sie dumm an. Die Dame steht auf und geht. Und gleich
hat er ein neues Opfer gefunden. Aber nur kurz. Aus dem Führerhaus meldet sich die
Tramfahrerin und teilt dem Blonden mit, er möge die Fahrgäste in Ruhe lassen oder
aussteigen. Der Täter tut weder das eine noch das andere. Mir reicht es. Ich stehe auf,
baue mich vor dem Besoffenen auf und spreche ihn ruhig an: Halt jetzt die Klappe,
niemand will mit dir reden und lass gefälligst die Frauen in Ruhe! Er reagiert
überhaupt nicht auf mich. Die Tram hält an. Ich will mich wieder hinsetzen aber mein
Platz wurde inzwischen von einer etwa Fünfzigjährigen besetzt. Ich lasse mich neben
einer Contergangeschädigten nieder. Ich versuche, weiterzulesen. Aber jetzt muss ich an
die Behinderte neben mir denken. Wie sie wohl ihr Leben meistert? Der Besoffene hat ein
neues Opfer gefunden. Er rückt einem Teenager ziemlich nah auf die Pelle: umarmt ihn,
schlägt ihm auf den Rücken. Ich koche. Erhebe mich, laufe zum Täter und fordere ihn
auf, endlich aufzuhören. Er reagiert nicht. Das Opfer umso mehr: Hören Sie, was
der Herr sagt, so hören Sie doch endlich auf! Ich sage dem Opfer, er solle sich
woanders hinsetzen. Das Opfer steht auf, der Täter wankt hinterher. Die Tram hält. Der
Täter ist auf Türhöhe. Ich eile zu ihm und gebe ihm einen Stoß. Er stolpert aus der
Tür und fällt auf den Bürgersteig. Die Tür schließt sich. Wenige Sekunden darauf
öffnet ein von draußen heranhastender Fahrgast die Tür. Er hat nichts vom Rausschmiss
mitbekommen. Wahrscheinlich hätte er einen anderen Einstieg genommen. Der Besoffene
rappelt sich auf, murmelt: Ej, wat war das denn, wat war das denn? Er versucht
wieder einzusteigen. Ich stelle mich vor die Tür und schreie ihm Bleib
draußen! entgegen. Verblüfft starrt er mich an. Er erschrickt und tut mir leid.
Die Bahn fährt los. Ich sehe, wie er immer noch erstarrt vor der abfahrenden Bahn steht
und es nicht glauben kann. Ich fühle mich schlecht. Setze mich wieder neben das
Conterganopfer. Der Teenager nickt mir ein Danke zu. Ein Fahrgast raunt:
Das war aber gefährlich! Natürlich war es gefährlich. Ihr Scheißer, habt
die ganze Zeit die Klappe gehalten, jetzt fällt euch etwas ein. Typisch! Natürlich
hätte noch einiges passieren können. Es war brutal, ich war brutal. Aber es war
zweckmäßig. Ich hätte auch sagen können: Ja bitte, lieber Herr Besoffener, wir
fühlen uns belästigt, könnten Sie bitte jetzt aussteigen?" Vermutlich hätte ich
nun ein Messer im Bauch und der dumme Fahrgast könnte Das ist aber
gefährlich! raunen. Auf der anderen Seite hätte der Besoffene sich schwer
verletzen können. >Wer handelt, trägt Verantwortung< kommt mir in den Sinn. Ja,
wer nur dasitzt, die Schnauze hält und nach vollzogener Handlung lästert, der kommt
immer besser weg. Ich drehe mich um und schaue dem Conterganopfer in die Augen. Keine
Regung. Ich kann nicht mehr lesen. Als ich an der Haltestelle >Gerresheim Rathaus<
aussteige, bedanken sich zwei ältere Damen für meine Entschlossenheit. Ich sage nichts.
Ich warte fünf Minuten auf meinen Anschlussbus. Er ist leer. Die Sitzbänke sind
verschmutzt und zwei leere Bierflaschen rollen im Rhythmus der Kurven hin und her. Ich
könnte kotzen.
Nachdem ich meiner Frau die Geschichte erzählt habe, versuche ich einen Bissen
herunterzubekommen. Es gelingt mir nicht. Heute, am fünfzehnten Hochzeitstag, sitze ich
vor dem Festmahl und blicke schweigend in die Augen meiner Frau.