Mara
Der steinige Weg einer geschundenen Kinderseele...
Aufwachsen
in Sizilien
Mit zehn begann ich zur Frau zu werden. Meine Mutter meinte lediglich, dass ich mich von
Jungen fernhalten müsse und drohte mit Schlägen, falls ich nicht gehorchte. Sie fand
ohnehin immer einen Grund, mich zu schlagen, am liebsten mit einem Stück Wasserschlauch.
Manchmal war ich grün und blau von Kopf bis Fuss. Oft hagelte es Ohrfeigen oder sie
zerrte mich an den Haaren und schlug meinen Kopf gegen die Wand. "Ich bringe dich um!
Ich habe dich zur Welt gebracht, nun zerstöre ich dich!" Sie umklammerte meinen Hals
und drückte zu. Verflucht sei der Tag, als ich dich aus meiner Scheide liess!" Sie
schrie mich an, nie habe sie ein Mädchen gewollt, mein Dasein sei auf einen Fehler meines
Vaters zurückzuführen, der nicht genügend aufgepasst habe, und während der
Schwangerschaft sei es ihr misslungen, mich loszuwerden.
Unsere Familie kämpfte mit finanziellen Schwierigkeiten. Der Verdienst meines Vaters
reichte nicht. Einmal mussten wir die letzten Tropfen aus den leeren Ölflaschen sammeln.
Mit Wasser vermischt reichte dies gerade noch für einen Tomatensalat. Ein Stück Brot
dazu, das war unser Mittagessen. In diesem Stil ging es weiter, immer hielten wir uns
irgendwie über Wasser. Andererseits roch ich oft Angebranntes, wenn ich von der Schule
kam. Einmal schaute ich nach und entdeckte auf dem Grill mit Stecknadeln gespickte Hasen-
oder Hühnerherzen.
Dann eröffnete meine Mutter einen Blumenladen. Die Arbeit um das neue Geschäft erfüllte
sie mit Zufriedenheit. Nur zu uns Kindern war sie kalt wie immer. Obwohl wir im Laden oft
nur einen halben Meter voneinander entfernt standen, konnte sie tun, als wäre ich Luft.
Oft nach Schulschluss und während der Ferien hütete ich den Blumenladen alleine. Wenn
sie dann abends kam, schmiss sie mir ein Pack Teigwaren und eine Büchse Fleisch auf den
Tisch: "Hier, wenn du Hunger hast, koch und iss." Aber ich kochte alles am
darauf folgenden Tag und gab es meinem Hund. Ich selber trank ich nur Zuckerwasser.
Eines Tages sagte sie, falls Zio Saro, der aus Amerika zugewanderte Mafioso, auftauche,
solle er wieder kommen, wenn sie da war. Nach einer guten Stunde erschien er wirklich. Ich
richtete ihm aus, er solle so freundlich sein, wieder zu kommen, wenn sie zurück war. Er
schaute sich um und sagte: "Komm, gehen wir in die Küche und du machst mir einen
schönen Kaffee." Wir gingen in die Küche, wobei ich grosse Angst hatte. Was mochte
er vorhaben? Rauswerfen konnte ich ihn nicht, denn er war einer der Bosse, und denen
begegnet man mit Respekt. Bei uns in Sizilien ist die Mafia Realität. Ich bereitete also
Kaffee, und er legte gleich los: "Du bist ein hübsches, ja ein sehr hübsches
Mädchen. Ich werde dich glücklich machen. Dann lecke ich dir das Pfännchen. Weisst du,
es ist schön zu lecken." Ich schaute angewidert zurück, wusste aber nicht was
antworten. Er lachte nur ironisch und schaute mich an, als wollte er mich mit einem Blick
verschlingen. Ich servierte den Kaffee, ohne meine Angst zu zeigen. Just als ich mich
über den Tisch beugte, packte er meine Hand und zog mich zu sich. "Komm, gib mir
einen Kuss. Hab dich nicht so, küss mich!" Mit aller Kraft versuchte ich mich
loszureissen. "Nein, ich will nicht", schrie ich, "lass mich in Ruhe!"
Aber dieser alte Mann hielt mich mit einer unglaublichen Kraft fest. Er streichelte meine
Hand, die Beine, die Brüste, und mit aller Kraft versuchte er, mich zu küssen. Zum
Schluss konnte ich nur noch schreien: "Es reicht, geh weg und komm erst wieder, wenn
meine Mutter da ist!" Er lachte verlegen: "Ja, ja! Ich geh ja schon."
Endlich liess er mich los, ich sprang davon. Da stand ich neben seinem Rolls. Der
Chauffeur sah mir an, dass etwas passiert war, blieb aber völlig gleichgültig. Kurz
darauf erschien Zio Saro. Ich sollte meiner Mutter ausrichten, er würde ein anderes Mal
wieder kommen. Endlich verschwand er, ich lief in die Küche und brach in Tränen aus.
1977 schloss ich die Schule ab und wollte Jura studieren oder Sprachlehrerin werden. Meine
Eltern jedoch lehnten beide ab. Meine Mutter gab keinen Grund an, mein Vater meinte, für
eine Frau reiche es, lesen und schreiben zu können. Vor allem wollte er verhindern, dass
ich mich wie andere am Strand herumtrieb. So arbeitete ich fortan neben meiner Mutter. Ich
wusste, dass Bildung für meine weitere Existenz wichtig war, und in der Schule war ich ja
gut gewesen. Ich wollte lernen und etwas aus mir machen. Ich wusste, dass ich nicht immer
klein bleiben und eines Tages ausziehen würde, und mein Herz war voll grosser Wünsche.
Mir stand das Recht zu, aus meinem Leben zu machen, was ich wollte.
(...)
Neuorientierung in der
Schweiz
Er meinte, er hätte eine Arbeit für mich. "Super! Was ist das für eine
Arbeit?" - "Als Barmaid." - "Klar, warum nicht!" - "Es
handelt sich um ein Striplokal." Gleich zweimal schluckte ich leer, aber ich hatte
wenig Wahl und war bereit, sofort anzufangen - unter der Bedingung, dass ich mich nicht
ausziehen musste.
Liebhaber hatte ich keinen, obschon es an Verehrern nicht mangelte. Ich war jung, hübsch,
hatte eine gute Figur und unterhielt mich gerne mich den Leuten. Das kam mir an der Bar zu
gute. Auch wenn es schwierig war, hatte ich stets ein Lächeln für die Kunden, obschon
mir innerlich oft zum Speien war. Ich lernte das ebenso schnell wie die Kunst, mit
alkoholischen Getränken anzustossen, ohne selbst zu trinken. Am Feierabend war ich als
einzige noch nüchtern. Das Nachtleben war mit nichts zu vergleichen. Ich sah die
Erniedrigungen, die unseren Mädchen widerfuhren und lernte die Männer von einer mir
bislang verborgenen Seite kennen. Sie behandelten die Mädchen wie Dreck. Zum Beispiel
spendierten sie ihnen erst einen Cocktail, dann fassten sie ihnen ohne weitere Umschweife
zwischen die Beine. Ob Bankdirektor, Hotelbesitzer oder sonst in angesehener Position, im
Cabaret war dies ohne jede Bedeutung. Hier waren alle gleich. Diese Typen blieben auch
für die Privatparties nach Feierabend, an denen manchmal sogar Ehefrauen von Gästen
nackt auf der Theke tanzten, was mich fast noch mehr abstiess als das Gehabe ihrer
Männer. Die meisten Frauen, die als Stripperinnen dort arbeiteten, viele Asiatinnen,
waren mit falschen Versprechungen in die Schweiz gelockt und alsdann zum Striptease und
zur Prostitution gezwungen worden. Dabei hatten viele keine Ahnung, wie sich auf der
Bühne ausziehen, doch sie waren ihrem Patron ausgeliefert, hatten, nach ihren eigenen
Massstäben, ihr Gesicht verloren und konnten ebenso wenig nach Hause zurück wie hier
bleiben. Es kam sogar vor, dass eine Frau beim Strippen auf der Bühne losweinte, doch
schien das Publikum davon eher noch angeturnt. Sie waren verraten, verdammt, verloren, in
erster Linie leidend. Die "Service"-Angestellten überdeckten ihre Misere mit
Alkohol, Joints und was weiss ich für Zeug. Gerne wäre ich einfach davongelaufen, doch
war ich immer noch auf eine Arbeitsstelle angewiesen, um meine Aufenthaltsgenehmigung zu
behalten. Das Leben lehrte mich hier eine ganz besondere Lektion.